Jahrestag des Grauens


Jahrestag des Grauens

 

Die Morde vom 7. Oktober und der unverhohlene Antisemitismus

Als in den Morgenstunden des 7. Oktobers 2023 Tausende Terroristen der Hamas, der Qassam-Brigaden sowie Angehörige anderer palästinensischer Milizen gemeinsam mit Zivilist:innen aus Gaza die Grenzen Israels überwunden hatten, brachten sie auf brutalste Weise so viele Menschen um, wie sie konnten. Die von ihnen verübten Grausamkeiten, Vergewaltigungen und Ermordungen von Besucher:innen des Supernova-Festivals in der Negev-Wüste und Bewohner:innen der Kibbuzim in der Nähe der Grenze zu Gaza nahmen sie per Bodycam oder Helmkamera auf und veröffentlichten ihre Gräueltaten teilweise im Livestream. Über zweihundert Israelis wurden aus ihrem Zuhause oder einem Festival, das der Feier von Liebe und Freiheit gewidmet war, entführt und werden teilweise bis heute unter grauenvollen Bedingungen gefangen gehalten. Viele der Geiseln mussten zuvor die Ermordung ihrer engsten Angehörigen mit ansehen. 

Bereits am Nachmittag des 8. Oktobers fragte Tagesschau-Moderatorin Kathrin Schlass den israelischen Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, im Tagesschau-Interview viermal, wo die Verantwortung in Israel dafür liege, dass dieser Angriff erfolgen konnte; mit keinem Wort erwähnte die Interviewerin die an dem Tag bereits bekannten Taten. Das Schweigen zu dem als militärischer Angriff geplanten und durchgeführten Pogrom palästinensischer Einheiten verwandelte sich nicht nur in Kulturinstitutionen wie Theatern und Ausstellungshäusern, sondern vor allem auch an den Universitäten in den folgenden Monaten zu einer beredten Parteinahme für die palästinensische Seite.

Während Israel einem unaufhörlichen Raketenkrieg aus Gaza, dem Libanon und dem Jemen ausgesetzt ist und dadurch ganze Landstriche unbewohnbar geworden sind, machen Wissenschaftler:innen, Nachrichtensendungen, linke Demonstrant:innen und Regierungspolitiker:innen immer wieder Israel als den Aggressor aus. 

 

Vom Massaker zur Meinungshoheit

Auch vor dem 7. Oktober war eine antisemitische Weltsicht, die Israel allein durch seine Existenz als Bedrohung ansieht, weit verbreitet. Dass auch nach dem schlimmsten antisemitischen Pogrom seit dem Holocaust weltweit Israel für das Geschehen in Gaza verantwortlich gemacht wird statt die dortige Hamas-Regierung, macht den schwindenden Realitätsbezug von Nachrichten und öffentlicher Diskussion deutlich. Dass bei der in Reaktion auf den Überfall vom 7. Oktober stattfindenden israelischen Offensive auch palästinensische Zivilist:innen zu Schaden und zu Tode kommen, wird medial regelmäßig Israel zur Last gelegt und nicht der Hamas, die den aktuellen Konflikt mit den Massakern vom 7. Oktober 2023 auslöste und zivile Infrastruktur – Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, Moscheen – als Kommandozentralen, Geiselversteckfür Raketenwerfer und andere Kriegsinfrastruktur nutzt. Regelmäßig heißt es im Live-Blog der Tagesschau, „weder die palästinensische noch die israelischen Angaben“ ließen sich unabhängig überprüfen, was die hierzulande herrschende Äquidistanz zu einer Demokratie mitsamt Gewaltenteilung, Opposition, Meinungsfreiheit und transparent operierenden Medien auf der einen und einer terroristischen Autokratie auf der anderen Seite verdeutlicht. Wie schon mit der Hamas fühlen Tagesschau-Meldungen mit Hisbollah-Verlautbarungen mit, als wäre Israel nicht seit dem 7. Oktober einem anhaltenden Raketenbeschuss aus Gaza wie aus dem Libanon ausgesetzt gewesen. Kaum erwähnt in deutschen Medien wurden die Hunderttausende Binnenflüchtlinge innerhalb Israels, die aufgrund der Raketenangriffe aus dem Libanon und aus Gaza größtenteils bis heute nicht in ihre Wohnungen zurückkehren konnten.


„Free Palestine“ als antisemitische Todesdrohung

Die Einwohner:innen gerade jener Kibbuzim, die am 7. Oktober überfallen wurden, hatten sich zuvor immer wieder für Gaza-Bewohner:innen eingesetzt, ihnen Krankenhausbehandlungen in Israel ermöglicht und in ihren Gemeinden Mitarbeiter:innen aus Gaza beschäftigt – unter anderem auf diese Weise kam die Hamas ja auch an ihre detaillierten Informationen über die örtliche Infrastruktur. Diejenigen, die am 7. Oktober die Grenze nach Israel durchbrachen und Menschen in den israelischen Ortschaften ermordeten, wussten, wo sich Schutzräume, Kindergärten und Jugendzentren befanden und wie sie dort eindringen konnten.

Sie haben das nicht gemacht, weil sie damit die innere Verfasstheit des Landes Israel kritisieren oder einen Dissens zur politischen Ausrichtung der derzeitigen israelischen Regierung ausdrücken wollen. Sie haben es auch nicht gemacht, um einen eigenen palästinensischen Staat innerhalb einer Zwei-Staaten-Lösung zu fordern. Sie haben das gemacht, weil sie so viele Jüdinnen und Juden wie möglich töten wollen. Sie haben es gemacht, weil sie beabsichtigen, Israel von der Landkarte zu eliminieren. Das bedeutet die Parole „Free Palestine“, die sich auf so vielen Demonstrationen und Wänden auch in linken Projekten findet. Die psychische Verknüpfung dieser Parole mit der eigenen antisemitischen Projektion zeigte sich schon kurz nach dem 7. Oktober im Herbst 2023, als linke Demonstrant:innen in Deutschland Schriftzüge wie „Free Gaza from German guilt“ und „Palestine will set us free“ oder „Nie wieder für alle“ hochhielten. Die Hamburger Gruppe Ahrar setzt sich gleich überregional für terroristische Organisationen ein, für „Palästina, den Libanon, den Jemen“, und forderte bereits eine „Einstaatenlösung“ (online inzwischen wieder durch „die Befreiung unserer Heimat Palästina“ ersetzt); im Logo der Gruppe ist die Zerstörung Israels und die Ermordung oder erneute Vertreibung der israelischen Jüdinnen und Juden unverhohlen impliziert.

 

Die genozidalen Fantasien im „Genozid“-Vorwurf

Die Rede davon, dass Israel in Gaza einen „Genozid“ verübe, ist in Deutschland besonders perfide und geschichtsvergessen – seit dem Zweiten Weltkrieg möchte man hierzulande gern die deutsche Täterschaft beim Mord an über sechs Millionen Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus leugnen, verdrängen oder sonstwie loswerden. Die Opfer von „damals“ zu den Tätern von heute zu erklären, setzt den relativierenden Umgang mit der Shoah zielgerichtet fort. Bis heute wurde im Land der Erinnerungskultur keine wirkliche Konsequenz aus der versuchten Auslöschung des Judentums und dem organisierten Massenmord gezogen – die etwa auch eine nennenswerte Entschädigung der Überlebenden und Nachkommen der Opfer umfasst hätte. Zwar erklärte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 Israels Sicherheit zur „deutschen Staatsräson“. Praktische Folgen aber, wie etwa eine reale Unterstützung Israels im Kampf gegen die islamistischen Mörder, diplomatischer Druck auf ihre Komplizen im Iran, weitere Verhandlungen mit und weitere materielle Unterstützung der Palästinenser:innen erst nach Entwaffnung der Hamas und Freilassung der Geiseln: Fehlanzeige. Die Vergangenheit der eigenen Familie inklusive unangenehmer Alltagsfragen wie der, wo das Familienvermögen, die großelterliche Immobilie oder das vererbte schöne Tafelsilber so herkommen, wird hierzulande in den meisten Fällen bis heute lieber nicht thematisiert. Der Schriftsteller Ralph Giordano bezeichnete dieses Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust als „die zweite Schuld“. Auch im muslimischen Antisemitismus schwelt der brennende Wunsch danach, Israel als Täter zu sehen.

Der Staat Israel erinnert allein durch sein Vorhandensein immer wieder an die Notwendigkeit eines jüdischen Staates in einer antisemitischen Welt. Die antisemitische Projektion macht lebenden Jüdinnen und Juden zum Vorwurf, dadurch, dass sie auf der Welt sind, an den von Deutschen verübten Genozid zu gemahnen. Doch nicht Israel agiert genozidal, sondern genozidal sind die Fantasien derjenigen, denen die Wortverbindung „Israel – Genozid“ sofort in den Kopf kommt, wenn vom jüdischen Staat die Rede ist. Als konkreter Vorwurf entbehrt dieser antisemitische Reflex jeder materiellen Grundlage. Die israelische Offensive versucht, mehr als alle anderen nationalen Armeen der Welt, aktiv zivile Opfer zu vermeiden. Von keinem Staat sonst ist bekannt, dass er Zeltstädte als Fluchtort für Angehörige des militärischen Gegners aufstellt. Anstatt von der palästinensischen Seite eine sofortige Entwaffnung und die Freilassung aller am 7. Oktober entführten Geiseln zu fordern, geben sich die Hamasversteher:innen hierzulande pazifistisch, indem sie Israel dämonisieren.

 

Der 7. Oktober und kein Ende

Zum derzeitigen Zeitpunkt ist vollkommen unklar, wie dem vormarschierenden Antisemitismus in Zivilgesellschaft, Kulturbetrieb, weiten Teilen der Medienlandschaft und von explizit islamistischen Regimes wie etwa im Iran Einhalt geboten werden kann. 

Seit einem Jahr ist für die Menschen in Israel die Welt nicht mehr dieselbe. Holocaustüberlebende fielen im hohen Alter doch noch antisemitischen Horden zum Opfer, Kindern wurden von Hamas-Angehörigen dazu gezwungen, Videos von der Ermordung ihrer Angehörigen anzusehen, sexuelle Gewalt gegen Israelinnen wurde gezielt und mit unglaublicher Brutalität ausgeübt. Diejenigen, die nach monatelanger Gefangenschaft in palästinensischen Terrortunneln immerhin freigelassen wurden – zum Preis einer Entlassung inhaftierter Palästinenser:innen, die teilweise wegen mehrfachen Mordes verurteilt worden waren – werden jahrelang, vermutlich ihr Leben lang mit den psychischen und physischen Folgen zu kämpfen haben. Das Trauma betrifft die gesamte israelische Bevölkerung.

In Israel haben sich viele, vor allem Angehörige von Ermordeten und Geiseln, die sich immer noch in der Gewalt der Hamas befinden, gegen eine zentrale Gedenkfeier ausgesprochen. Auch in Hamburg findet kein zentrales Gedenken statt. Zum Jahrestag des Überfalls vom 7. Oktober sind einzelne Aktivitäten verschiedener Organisatoren geplant, auf die wir hier hinweisen:

·      6.10., 12 Uhr – Run For Their Lives: Lauf innerhalb Hamburgs, um an die immer noch im Gaza-Streifen gefangen gehaltenen Geiseln zu gemahnen. Theodor-Heuss-Platz, Bei der Moorweide, kurzfristige Startpunktänderung möglich. 

·      7.10., 16.30 Uhr – Ausstellungseröffnung „October 7 2023“ der ukrainisch-israelische Künstlerin Zoya Cherkassky-NNadi. Kooperation der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, des Beauftragten für Jüdisches Leben und die Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus der Stadt Hamburg und der Hauptkirche St. Petri. Hauptkirche St. Petri, Bei der Petrikirche 2. 

·      7.10., 19 Uhr – Gedenkzeremonie der Jüdischen Gemeinde und der Israelischen Community auf Deutsch und Hebräisch. Anmeldungen mit vollem Namen und E-Mail-Adresse an veranstaltungen(at)jghh.org.

·      8.10., 18.30 Uhr – Vortrag von Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, im Gespräch mit Olaf Kistenmacher: „Die Tiktok-Intifada – Antisemitismus im Netz nach dem 7. Oktober“. Eine Veranstaltung der Landeszentrale für Politische Bildung, in Kooperation mit Warburg-Haus Hamburg. Warburg-Haus, Heilwigstraße 116. Anmeldungen mit vollem Namen und E-Mail-Adresse an abut.can(at)bsb.hamburg.de.

·      8.10., 19 Uhr – Vortrag von Ralf Balke „1 Jahr 7. Oktober – Die Lage in Israel und die ungewisse Zukunft“. Eine Veranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e. V. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Von-Melle-Park 3. Anmeldungen mit vollem Namen und E-Mail-Adresse an kontakt(at)dighamburg.de.

·      10.10., 18.30 Uhr – Buchvorstellung „Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik“ mit dem Herausgeber Vojin Saša Vukadinović und dem Autor Ali Ertan Toprak im Gespräch mit Olaf Kistenmacher. Eine Veranstaltung der Landeszentrale für Politische Bildung. Tschaikowsky-Saal, Tschaikowskyplatz 2. Anmeldungen mit vollem Namen und E-Mail-Adresse an abut.can(at)bsb.hamburg.de.

In den globalen antisemitischen Ausbrüchen ist die Welt als Ganzes dem 7. Oktober noch näher gerückt als vor einem Jahr. Stellvertretend für die über 1200 israelischen Opfer des Hamas-Überfalls gedenken wir Carmel Gats, Eden Yerushalmis, Alexander Lobanovs, Almog Sarusis, Hersh Goldberg-Polins und Ori Daninos, die bis Ende August 330 Tage unter kaum vorstellbaren Bedingungen in den menschenfeindlichen Tunneln der Hamas verbrachten und schließlich willkürlich von der Hamas ermordet wurden. Möge ihr Andenken ein Segen sein.

 

Oktober 2024

Hamburger Initiative gegen Antisemitismus

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