Die radikale Linke: Ein Exkursionsbericht aus Hamburg
Die radikale Linke: Ein Exkursionsbericht aus Hamburg
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„Wir sahen Israel nicht mehr aus der Perspektive des nazistischen Vernichtungsprogramms, sondern nur noch aus dem Blickwinkel seiner Siedlungsgeschichte: Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als historisches und soziales Faktum fortlebt.“ Revolutionäre Zellen, Gerd Albartus ist tot (1991)
Mitte Dezember vergangenen Jahres wurden wir, die Hamburger Initiative gegen Antisemitismus, darüber informiert, dass das Plenum der Roten Flora ein „Strukturverbot“ gegen uns verhängt habe – wir als Initiative die Rote Flora somit nicht mehr für Veranstaltungen nutzen dürften. Statt sich auf die Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus und unseren Positionen einzulassen, hat sich ein inhaltlicher Konflikt auf eine Strukturebene und das Einhalten von Szenecodes verschoben. Das ist symptomatisch dafür, wie die Befassung mit politischen Differenzen in der radikalen Linken vermieden wird. Im Folgenden sollen die Vorgänge eingeordnet und dabei die Darstellung der konkreten Geschehnisse so kurz wie möglich gehalten werden.
Ursprünglicher Anlass für das „Strukturverbot“ waren „Vorkommnisse”, mit denen anfänglich das Aufhängen unseres Transparents mit der Aufschrift „There is no free world without zionism” am 30. November an der Flora gemeint war und zu dem wir bereits zu einem Gespräch zitiert wurden – allerdings wurde uns bereits vor dessen Termin das Strukturverbot mitgeteilt. Das Transparent sollte ein Zeichen gegen die Kundgebung der antizionistischen Gruppe Ahrar setzen, die an jenem Tag vor der Roten Flora stattfand und wurde binnen einer Stunde von Leuten aus der Flora wieder abgehängt, weil es zu sehr „provozieren” würde.
Mit dem Transparent sollte verdeutlicht werden, dass der Zionismus in einer wesentlich antisemitisch strukturierten Welt eine notwendige Bedingung ist, um an die befreite Gesellschaft überhaupt noch zu denken. Über Sicherheitsbedenken und die Befürchtung, dass antisemitische Linke erneut versuchen könnten, die Flora zu besetzen, hätte selbstverständlich geredet werden können – auch wenn davon auszugehen ist, dass Antisemit*innen zu ihrem Verhalten nicht provoziert werden müssen. Am Ende sind Bilder entstanden, wie Polizist*innen die Rote Flora von Ahrar und der ebenfalls antizionistischen Gruppe Flora für Alle abschirmen. Dem einen politisch stärkeren Ausdruck entgegenzusetzen, wäre wünschenswert gewesen.
Denn es ist zu konstatieren, dass die inhaltliche Arbeit der Roten Flora mittlerweile hauptsächlich in der Gestaltung der Außenfassade und der anschließenden Bilderproduktion für Social Media besteht. So hatte die Rote Flora nach dem 7. Oktober durch das Aufhängen des „Free the World from Hamas“ Transparents ein deutliches Zeichen gegen deren antisemitisches Massaker gesetzt. Konsequent auf der Ebene der Bilderlogik verbleibend war es auch die Scheinbesetzung der Roten Flora durch antizionistische Gruppen im Mai 2024, die uns überhaupt dazu veranlasste, die emanzipatorischen Kräfte in der Flora unterstützen zu wollen. Doch mussten wir feststellen, dass die interne Positionierung gegen Antisemitismus dem äußeren Bild bestenfalls hinterherhinkt.
In der deutschen Linken ist eine Rückkehr des antizionistischen Antiimperialismus zu beobachten, auch wenn dieser sprachlich und theoretisch zumeist in einem postkolonialen Gewand auftritt. Neben und zu den klassisch marxistisch-leninistisch (heißt meist: stalinistisch oder maoistisch) ausgerichteten Gruppen und ihrem „roten“ Nachwuchs ist ein Milieu getreten, das seine Argumentation vorwiegend aus einem akademischen Diskurs bezieht, der mehrheitlich an Universitäten in den Vereinigten Staaten geprägt wurde und inzwischen auch an deutschen Universitäten zunehmend hegemonial wird.
Eine Kritik kolonialer und nachkolonialer Zustände ist selbstredend legitim und wichtig: Zu beobachten ist aber auch, dass die Fokussierung auf koloniale Gewalt dazu neigt, die Spezifität und Singularität der Shoah in eine allgemeine Gewaltgeschichte aufzulösen. In einer vulgarisierten Variante gleicht die postkoloniale Theoriebildung daher eher der Deutschen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit, die so gerne der „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ gedenkt, um nicht über den antisemitischen Vernichtungswahn sprechen zu müssen. So landen hiesige postkoloniale Linke bei Parolen, die denen der neonazistischen Rechten zum Verwechseln ähneln: Während die Rechten mit dem deutschen „Schuldkult“ aufräumen wollen, fordern die vermeintlich informierten zeitgenössischen Linken „Free Gaza From German Guilt“. Zudem beschränkt sich diese Rezeption der Kolonialgeschichte meist darauf, den Westen als alleinigen Akteur darzustellen, wobei auch Israel, unbekümmert von historischen Fakten, als westliches Kolonialprojekt eingemeindet und so der Kampf gegen den jüdischen Staat legitimiert wird.
Auch innerhalb der undogmatischen, autonomen und selbsterklärt antiautoritären Linken ist es mit der Antisemitismuskritik nicht so besonders weit her: Der Wille, mit mehr oder weniger antizionistischen Gruppen bündnisfähig zu bleiben, auch wenn diese von einem „Genozid“ in Gaza sprechen - ohne eine begriffliche Unterscheidung zwischen Krieg und Genozid überhaupt treffen zu können - überwiegt das Unbehagen, das dagegen herrscht, wenn solche Gruppen oder Personen das Existenzrecht Israels mittelbar oder unmittelbar in Abrede stellen.
Darin scheinen auch immer wieder plump antimilitaristische und pazifistische Positionen durch, die Krieg unabhängig vom Anlass abstrakt ablehnen und dabei auf eine ebenso abstrakte, vermeintlich radikale Staatskritik verweisen: Der Staat wird darin aber nicht mehr als notwendige politische Form kapitalistischer Vergesellschaftung verstanden, die durch Monopolisierung der Gewaltmittel und der zum bürgerlichen Recht verallgemeinerten Umgangsformen versucht, zwischen den sich antagonistisch gegenüberstehenden Privatinteressen zu vermitteln und den gesellschaftlichen Konflikt so einzuhegen.
Das bedeutet nicht, dass diese dem Kapitalverhältnis inhärente Gewalt als naturgegeben zu akzeptieren wäre. Die Auflösung der staatlich-demokratischen Vermittlungsformen bedeutet aber unter den gegebenen Verhältnissen nicht die Abschaffung von Gewalt, sondern ihre umso willkürlichere und brutalere Durchsetzung durch autoritäre Rackets, egal ob diese sich libertär, islamistisch, maoistisch oder völkisch präsentieren. Folglich verstehen die antiautoritären Linken auch nicht den Kern des zionistischen Projekts, mit Israel eine staatsförmig organisierte Schutzgewalt gegen die ständige antisemitische Vernichtungsdrohung zu etablieren. In genau diesem Sinne kann es keine befreite Gesellschaft ohne oder gegen den Zionismus geben, weil das hieße, Jüdinnen und Juden auf dem Weg dahin den Antisemit*innen auszuliefern.
Eine Kehrseite schlechter Staatskritik ist ferner die Idealisierung supra- und nichtstaatlicher Organisationen wie der Vereinten Nationen oder Amnesty International, die als apolitische Instanzen universeller Moral erscheinen und deren Genozidvorwürfe gegen Israel darum auch affirmiert werden, statt sie als politische Kampfmittel zu durchschauen. Doch anstatt solche Probleme zu reflektieren, ruhen sich die antiautoritären Linken darauf aus, Staatlichkeit abstrakt mit Gewalt zu identifizieren und sie abzulehnen, wo immer diese sich offen zeigt – auch wenn es dabei um Repression gegen Antisemit*innen oder die militärische Selbstverteidigung Israels geht.
Dementsprechend kam es auch in der Roten Flora über das „There is no free world without zionism“-Transparent zu keiner Reflexion. Stattdessen schien das „Strukturverbot“ bereits vor seiner offiziellen Bekanntgabe beschlossene Sache gewesen zu sein. Mehr oder weniger überraschend war dann, eröffnet zu bekommen, dass die Aktion mit dem Transparent lediglich einer von mehreren Anwürfen gegen uns gewesen sei.
Hierzu wurden alle möglichen realen oder phantasierten Situationen mit uns sowie einzelne Sätze einiger von uns im letzten dreiviertel Jahr eingeladener Referent*innen herangezogen. Darin offenbarte sich eine Recherchelust, die jede Antifagruppe neidisch machen müsste: Niemand außer der Hamburger Initiative gegen Antisemitismus musste sich in dieser Zeit so viel zu ihrem Auftreten oder ihren Veranstaltungen befragen lassen. Der Antisemitismus scheint in der Linken so normalisiert zu sein, dass eine antisemitismuskritische Gruppe ständig aller möglicher rechten Talking points verdächtigt werden muss. Im linken Szenekontext werden zudem Vortragsveranstaltungen offenbar nicht als Mittel zum Erkenntnisgewinn verstanden, sondern zuvörderst als Popularisierung bereits vorher bestehender Standpunkte, sodass auch alle Äußerungen der Referent*innen mit diesen und den einladenden Gruppen identifiziert werden.
Insgesamt scheint es irritiert zu haben, dass die Hamburger Initiative gegen Antisemitismus keine linke Allzweckgruppe ist, die zu jedem Thema einen durchplenierten Gruppenkonsens vorstellen kann oder will. Solcher krampfhaft angestrebte Konsens interessiert uns schlicht nicht, weil es uns primär um Erkenntnis durch Diskussion geht, zu der notwendig auch Dissens gehört. Der Gesellschaftskritik verpflichtet, sehen wir unser Eintreten gegen Antisemitismus nicht als idiosynkratische Fixierung auf eine beliebige Diskriminierungsform.
Der Antisemitismus ist vielmehr ein zentrales Strukturmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft und hat eine paranoide Tendenz zur Produktion eines geschlossenen Weltbilds, das sämtliche Phänomene der Gesellschaft in sich integrieren will. Diese Gesellschaft ist in sich antagonistisch verfasst und produziert darum soziale und politische Widersprüche, die sich auch in den Versuchen, sie theoretisch zu begreifen, als solche niederschlagen. Versucht man diese wegzuschaffen, um eine einheitliche, mit sich selbst identische linke Position zu schaffen, verfehlt man nicht nur die realen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern bezieht sich auch notwendig affirmativ auf verabsolutierte Einzelmomente dieser. Um dem zu entgehen braucht es nicht nur ein Verständnis von gesellschaftlicher Totalität, sondern auch den Willen und die Fähigkeit, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten. Gerade das passiert aber nicht. Stattdessen drängen die angeblich antiautoritären Linken beständig auf Ambivalenz- und Konfliktvermeidung durch entweder Konfliktverwässerung oder, wo das nicht mehr möglich ist, repressive Vereindeutigung und Ausschluss.
Am stärksten inkriminiert wurde unsere Referentin Chantalle El Helou, die wir am 15. November 2024 zum Thema „Antisemitismus in der Queer Theory“ in die Universität Hamburg eingeladen hatten. In ihrem Vortrag trug sie eine - bereits zuvor als längeren Aufsatz veröffentlichte - Kritik an Judith Butler vor, die deren Ethik der Verletzlichkeit und die fast schon masochistische Selbstauslieferung an den Anderen als verbindendes Moment ihrer queeren Subjekttheorie und ihres Antizionismus rekonstruiert. Dass wir eine solche Veranstaltung organisieren und diese zu Kontroversen führen wird, dass wir aber bereit sind, bei Gesprächsbedarf auch im Vorfeld darüber zu diskutieren, hatten wir schon über einen Monat zuvor auch in die Roten Flora angekündigt. Eine inhaltliche Reaktion auf den Vortrag gibt es bis heute nicht.
Stattdessen wurde ein nicht mal zwei Wochen vor dem Vortrag veröffentlichter TAZ-Kommentar El Helous zum Selbstbestimmungsgesetz herangezogen, um ihr - und qua Identifizierung uns - Transfeindlichkeit vorzuwerfen. Dieser Vorwurf wurde aus der Flora heraus das erste Mal zwei Wochen nach der Veranstaltung gemacht und wir hätten uns durchaus auch dazu äußern wollen, was ja dann aber nicht mehr geschehen konnte. Interessanterweise wurde uns die Diskussionsbereitschaft darüber zunächst selbst als Uneinsichtigkeit und Reflexionsverweigerung ausgelegt, während es dann später hieß, die Hamburger Initiative gegen Antisemitismus sei zu Gesprächen nicht bereit.
Es gibt zu erwähntem TAZ-Kommentar, wie auch zu El Helous Vortrag oder anderen Vorträgen unserer Referent*innen, bei uns keine einheitliche Gruppenmeinung. Jedoch sahen wir auch keine Notwendigkeit, die Referentin aufgrund dieses Kommentars auszuladen. Dieser bewegt sich nach unserem Dafürhalten im Rahmen eines vernünftig führbaren Diskurses und drückt eine Position aus, die sowohl auf der Körperlichkeit als auch der Gesellschaftlichkeit von Geschlecht besteht und dessen einseitige Auflösung hin zu individuellem Empfinden und Selbstpositionierungen ablehnt. Man muss mit den theoretischen Setzungen, die El Helou dabei vornimmt, und den politischen Folgerungen, zu denen sie gelangt, nicht notwendig einverstanden sein. Es ist durchaus möglich, dazu Einwände zu formulieren. Diese müssten jedoch dem selben Maßstab unterworfen sein, auf vernunftbasierter Diskussion beruhen, also mit Argumenten statt bloßem Labeling.
Die Auseinandersetzung wird so aber nicht geführt, stattdessen herrscht Bekenntniszwang. Der aus der Roten Flora an uns herangetragene Vorwurf hatte nicht das Ziel, den politischen Konflikt argumentativ zu bearbeiten, sondern bei uns einen „Reflexionsprozess“ anzustoßen, der aber gar nichts reflektieren, sondern zu einem vorgeschriebenen Ergebnis, dem Eingeständnis unserer angeblichen Transfeindlichkeit, führen sollte. So ein Vorgehen erinnert stark an ein unbewusstes Nachspielen stalinistischer Praktiken von Kritik und Selbstkritik, bei denen der Angeklagte immer a priori schuldig ist und die Partei immer recht hat.
Dass sich als antiautoritär missverstehende Linke ausgerechnet zur Trickkiste des autoritären Realsozialismus greifen, wird möglich durch einen willkürlich ausgelegten Betroffenheitsbegriff und ein maßlos verallgemeinertes Definitionsmachtverständnis: Der rationale Kern des Definitionsmachtkonzepts war eine Kritik am bürgerlichen Rechtsgrundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“, der in seiner abstrakten Allgemeinheit für konkrete, insbesondere sexistische Herrschaftsverhältnisse oftmals blind ist und diese somit im Bereich sexueller Gewalt reproduzieren kann. Während die Forderung, den Betroffenen zu glauben, sich misogynen Angriffen ausgesetzt sieht, wird sie an anderer Stelle so überdehnt, dass ein Vorwurf schon dadurch, dass er erhoben wird, als gerechtfertigt gilt und der Anwendungsbereich der Definitionsmacht weit über die Sphäre sexueller Gewalt hinaus und bis hin zum individuellen Leid an Zeitungsartikeln ausgeweitet ist. Heute sind es mannigfaltige Betroffene, die politische Sanktionen fordern und Widerspruch dagegen als weiteren Schuldbeweis definieren können.
Jedenfalls gilt das, solange es sich nicht um Betroffene von Antisemitismus handelt. Jüdische Genoss*innen aus unserer Gruppe mussten seitens der Flora wiederholt Diskussionen aushalten, ob Begriffe, welche die Shoah relativieren oder Israel delegitimieren, überhaupt als antisemitisch zu verstehen seien. Eine jüdische Perspektive wurde von den entsprechenden Gruppen zu keinem Zeitpunkt miteinbezogen - oder auch nur danach gefragt.
Dies zeigte sich auch bei einer Veranstaltung unserer Initiative mit Oliver Vrankovic im April vergangenen Jahres. Dieser lebt in Israel und verortet sich politisch in der pro-zionistischen Linken. Aufgrund wütender und polemischer, aber auch mutwillig böse interpretierter Facebook-Posts von ihm wurde uns die Rote Flora als Veranstaltungsraum fünf Tage vor der Veranstaltung entzogen. (Zur Einordnung der Kampagne gegen Oliver Vrankovic verweisen wir auf die Stellungnahme des Linken Bündnis gegen Antisemitismus München.) Der Skandal ist hier nicht nur, dass Vrankovic Aussagen vorgeworfen wurden, die eindeutig aus einer persönlichen Betroffenheit nach dem 7. Oktober heraus gemacht wurden, sondern dass hier die einzige Veranstaltung mit einem Vertreter der prozionistischen israelischen Linken verhindert werden sollte, die in Hamburg seitdem stattgefunden hat. Der Verdacht drängt sich auf, dass hiesige Linke unwillig sind, sich mit Israel zu beschäftigen.
Vrankovic schilderte, wie der Angriff der Hamas und verbündeter Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 eine unterschiedslose Vernichtungsabsicht gegenüber Jüdinnen und Juden, aber auch anderen israelischen Staatsbürger*innen oder auch nur sich in Israel aufhaltenden Menschen hatte. Er äußerte sich auch ausführlich zur Situation linker und friedensbewegter Israelis, von denen am 7. Oktober viele ermordet, entführt oder traumatisiert wurden. Große Teile der israelischen Linken sind seitdem schlicht desillusioniert und suchen Wege, wie sie an einem friedlichen Zusammenleben mit den arabischen Nachbar*innen festhalten oder zu diesem Gedanken zurückkommen können. In dieser Gemengelage entstanden auch Vrankovics verleumderisch angegriffene Facebook-Posts, die er bei der Veranstaltung ausführlich und durchaus selbstkritisch einordnete. Während beim Vorwurf der Transfeindlichkeit nicht näher begründete Betroffenenperspektiven gegen unsere Initiative ausgespielt wurden, war genau an der Stelle, wo ein Austausch über Perspektiven statt böswilliger Interpretation stattgefunden hat, dieser sehr erkenntnisreich.
Diese Widersprüche und Brüche werden von keiner der Gruppen, die Israel einen Genozid unterstellen, auch nur ansatzweise rezipiert. Ihre Rufe nach Frieden in Gaza kümmern sich nicht um das Leid der unter andauerndem Raketenbeschuss lebenden Israelis oder der am 7. Oktober verschleppten Geiseln, noch interessiert sie das Leid der Palästinenser*innen, sofern es nicht Israel zur Last gelegt werden kann. Auch die Menschen im Gazastreifen haben etwas Besseres als die islamistische Tyrannei der Hamas verdient – über die Frage, wie das erreicht werden kann, wird in Israel durchgehend diskutiert, aber es steht außer Frage, dass diese Tyrannei ohne militärische Gewalt nicht beendet werden kann.
Auch interessieren sich diese Gruppen nicht für die Situation der palästinensischen Flüchtlinge, für die sie ein Rückkehrrecht fordern: Diese flohen im Zuge des arabischen Angriffskriegs nach der Unabhängigkeitserklärung Israels in die arabischen Nachbarstaaten oder wurden vertrieben. Ihre Zahl hat sich seitdem mehr als verzehnfacht, weil die arabischen Staaten sich weigern, sie als Staatsbürger*innen zu integrieren und die Vereinten Nationen mit der UNRWA eine Institution geschaffen hat, die dafür sorgt, dass deren Flüchtlingsstatus nach letztlich völkischen Prinzipien vererbt wird. Eine linke Palästina-Solidarität müsste gegen diese Diskriminierung von Schutzsuchenden und ihre Ausbeutung als Faustpfand gegen Israel sofort protestieren, ginge es ihr wirklich um Palästinenser*innen statt um den Kampf gegen Jüdinnen und Juden.
Es ist zu bedauern, dass die radikale Linke hinter den einstmals erreichten Stand der Kritik am Antisemitismus zurückfällt und sich zunehmend mit den Überbleibseln des Antiimperialismus der 70er Jahre gemein macht, oder aus Angst um eigene Bündnisfähigkeit solcher Regression nichts entgegensetzen will. Unter solchen Bedingungen ist es als sinnlos zu erachten, sich auf Zusammenhänge zu beziehen, in denen die Positionierung gegen Antisemitismus bestenfalls zum Slogan gerät – genau so häufig aber lediglich den Anschein vermeintlicher Ausgewogenheit erwecken soll, um dann umso ungebrochener dem antisemitischen Ressentiment nachzugehen. Dabei ist das Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzung zugunsten von Befindlichkeiten oder taktischen Erwägungen immerhin ein negativer Index dafür, wie Debatte in emanzipatorischen Kontexten nicht zu laufen hätte.
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus, Januar 2025